Die Saharasia-These oder: der Untergang des Paradies?

Geodeterministische Erklärungsansätze fristen derzeit ein kümmerliches Leben in den Geisteswissenschaften. Dass große politische, künstlerische, religiöse, soziökonomische Prozesse eingebettet in Klima, Geländebeschaffenheit oder verfügbare Nahrungsmittel sein können und diese wesentlich mitprägen, wird in der Regel heute abgelehnt; viel eher sind es individuelle, vielleicht noch gruppenspezifische, eventuell noch zufällige Produkte einer chaotischen Welt, aber mit Sicherheit keine von der Natur vordeterminierten Prozesse, welche unsere Welt und Geschichte auszeichnen. Doch diese Auffassung war nicht immer die einzige „denkbare“ im wissenschaftlichen Diskurs, noch bis zur Mitte des 20. Jahrhundert waren große Linien und eine Einbettung kleinerer Ereignisse in das Ganze gern gesehene und diskutable Hypothesen. Fernand Braudel hat mit seiner Erzählung der mediterranen Welt der frühen Neuzeit vielleicht das sprachlich-glanzvollste Werk dieser Art vorgelegt; er beließ es nicht bei einer Aufzählung der harten Fakten, glitt aber auch nicht in belanglose Details ab, sondern versuchte eine Welt wiederauferstehen zu lassen, indem er aus Schiffsbüchern, Lagerlisten und meteorologischen Daten Bäume, Tiere, Essen und Menschen lebendig zeichnete. Ihn, wie immer noch eine Menge an Menschen, ließ wohl eine Frage dabei nie zur Ruhe gelangen: Warum ist die Welt heute so wie sie ist? Hat es nicht auch etwas mit unserer Umwelt zu tun?

Diesen Ansatz verfolgte auch der amerikanische Geograph James DeMeo in den 1980er Jahren. Seine Fragestellung war so einfach wie komplex: Wann kam die Gewalt in die Welt? Dabei implizierte er die Annahme, dass diese früher kaum bis gar nicht in der Welt war und erst durch ein Ereignis oder eine Ereigniskette in das menschliche Leben trat. Mit Schriftquellen ist diese Behauptung kaum nachweisbar, doch er zeigt anhand von Felsenmalereien und anderen archäologischen Quellen auf wie die Menschen vor dem „Stichjahrtausend“ Waffen nur in Verwendung bei der Tierjagd auf die Höhlenwände malten, aber danach immer mehr Waffen für den humanen Konflikteinsatz Einzug in die Bilderwelt erhielten. Das die Gewalt in der Geschichte, die wir seit den antiken Völkern genauer kennen, allgegenwärtig ist und ein dominantes, wenn nicht gar das dominanteste Element ist, darüber besteht kein ernstzunehmender Zweifel. Doch wann wurden wir Menschen aus dem gewaltfreien Paradies vertrieben? DeMeo nennt dafür einen relativ präzisen Zeitrahmen: ab 4000 v.C. wendete sich das Blatt. Um diese Zeit sollen sich die zuvor noch relativ feuchten, zwar steppenartigen, so doch fruchtbaren Weltgegenden in Nordafrika, Arabien und Zentralasien zu extrem trockenen Wüsten entwickelt haben. Einhergehend mit dieser radikalen Klimaveränderung kamen die Bewohner dieser Gegenden unter extreme Lebensbedingungen, unter Hungersnöte und überlebensnotwendigen Abwanderungsdruck. Damit einhergehend haben diese sich von matristischen, „ungepanzerten“ und friedlichen, zu patristischen, „gepanzerten“ und im Überlebenskampf auf Gewalt angewiesenen Gesellschaftswesen entwickelt.

Ein erster Blick auf die „Geschichte“ der Verwüstungen ehemals fruchtbaren Gebietes zeigt folgendes Bild: Für die Sahara, die größte Trockenwüste der Erde, zeichneten 2009 Geowissenschaftler drei große „Grünphasen“ in den letzten 200.000 Jahren nach. Die letzte dieser drei Phasen war am Ende der letzten Eiszeit; damals bewegten sich die Tropen für 800 Kilometer Richtung Norden, womit die tropischen Stürme dieser Region Regen brachten. Von dieser Fruchtbarkeit angezogene Siedler aus dem Süden Afrikas machten sich im 6. Jahrhundert v.C. dort ansäßig und betrieben Ackerbau. Die Wüste lebte. Doch schon 2 Jahrhunderte später blieben die Regenfälle wieder aus, die Bewohner der Wüste wanderten unter problematischen oder harten Bedingungen ab in fruchtbareres Land, beispielsweise in das Niltal. Etwas ähnliches ist uns auch von der zentralasiatischen Wüste Karakum bekannt: Noch um 4000 v.Chr. existierte dort mit der Okus-Kultur eine Oasenkultur, welche gleichentwickelt schien wie die ferneren Hochkulturen am Nil, in Mesopotamien oder am Indus. Doch eine Verwüstung des bis dahin fruchtbaren Land zwang die Angehörigen dieser Kultur zur Landflucht ins Zweistromland; um 1700 v.Chr. ist uns von dieser frühen Kultur nichts mehr bekannt. Auch die vorderindische Wüste Thar erlebte in dieser Zeit mit dem Versiegen des Flusses Ghaggar einen humanen Exodus. Für die arabische Halbinsel, heute eine der trockensten und heißesten Gegend der Erde, ist analoges mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Der geologische Befund ist also eindeutig und bietet für uns lediglich eine erste naturwissenschaftliche Vorprüfung der Rezipierfähigkeit der geisteswissenschaftlichen These von DeMeo.

Diese setzt zunächst empirisch an der sexualtheoretischen Theorie des Psychoanalyst Wilhelm Reich an. Diese beschreibt die destruktive Aggression und die Gewalt als einen völlig unnatürlichen Zustand des Menschen, welche erst durch Traumatas in die Welt kam. Gewalt ist für Reich ein Ventil für angestaute emotionale und lustempfindende Unterdrückung; mittels bestimmter schmerzvoller und lustfeindlicher Rituale und den für diese Zwecke infolge verankerten sozialen Institutionen wird so die gesunde Bindung zwischen Mann und Frau und Mutter und Kind bewußt oder unbewußt zerstört. Beispiele für solch repressives Verhalten sind bis in unsere modernen Gesellschaften vielfältig vorhanden; z.B. die Trennung von Baby und Mutter, eine Gleichgültigkeit oder Abstumpfung gegenüber dem Weinen und Schreien des schutzlosen Kindes, Verweigerung der Brust, übermäßig erzwungene Reinlichkeitsgebote beim noch dafür unreifen Kleinkind, aber auch noch rabiatere Methoden wie das Festeinwickeln des ganzen Körpers des Babys, Androhung von Gewalt oder Nachteile bei Nichtgehorchen und damit die Förderung von unkreativen, ruhsamen und devot folgendenen Kindern, bis hin zu körperlichen Schmerzritualen wie der Beschneidung oder der Arrangierung von Zwangsehen. Die späteren Erwachsenen, welche solche Rituale über sich ergehen lassen mussten, werden diese ungeachtet ihrer schmerzvollen und lustfeindlichen Konsequenzen unhinterfragt, als Teil „ihrer“ Identität, wiederum aktiv bei ihren Kindern anwenden. Reich geht hier sogar noch weiter, für ihn sind es diese sozialen Institutionen, welche immer wieder neu dafür verantwortlich sind, dass sich die schlechten, brutalen, psychotischen und selbstzerstörerischen Eigenschaften der Spezies Mensch nicht aus der Welt schaffen lassen, oft sogar noch verschlimmern. Kriege, Gewalt, Ungerechtigkeiten und Zerstörung sind die äußeren sozialen Zeichen dieser Fehlentwicklung der Individuen. Der eigentlich zu Friede und Kooperation neigende Mensch entwickelt aus innerlich angespannten emotionalen Disfunktionen heraus einen charakterlichen und auch muskulären Panzer; selbst die Vernunft verhindert nicht, peinigende und lustfeindliche Momente abzuwehren. Reich legte als Beweis für die eigentlich auf Lustgewinn und inneren Frieden ausgerichtete Spezies Mensch die Beobachtungen der Trobiander-Kultur und anderer ähnlicher Völker in der Südsee vor. In dieser Kultur, wo praktisch keine Gewalt und wenig unnatürliche Erziehung den Kindern angedeiht wird, entstehen stabile, monogame und liebevolle Beziehungen auch ohne Vorschriften oder Strafandrohungen. Anders in Kulturen, wo Schmerzen und (Mini-) Traumatas, eine Unterdrückung der emotionalen Ausdrucksfähigkeit oder das Zerstören des sexuellen Verlangens gerade bei Heranwachsenden die Regel sind; hier sind neurotische, (selbst-)zerstörerische oder gewalttätige Auffälligkeiten omnipräsent, in allen Gesellschaftsschichten.

DeMeo legt mit diesen Erkenntnissen ausgestattet eine Tabelle vor, welche Verhaltens- und Lebensweisen von „gepanzerten“ und „ungepanzerten“ Gesellschaften gegenüberstellt. Diese möchte ich an dieser Stelle einfügen, wobei ich besonders wichtige Stellen fettgedruckt hervorhebe.

Merkmal patristisch matristisch
(gepanzert) (ungepanzert)

Säuglinge wenig Behutsamkeit und Nachsicht viel Behutsamkeit und Nachsicht
Kinder und wenig körperliche Zuwendung viel körperliche Zuwendung
Jugendliche: traumatisierte Babies keine traumatisierten Babies
schmerzhafte Initiationsriten keine schmerzhaften Initiationen
Kinder von der Familie dominiert Kinderdemokratien
Geschlechtertrennung privat und öffentlich keine Geschlechtertrennung, weder privat noch öffentlich

Sexualität: eingeschränkt und mit Angst besetzt begrüßt und mit Lust empfunden
genitale Verstümmelungen keine genitalen Verstümmelungen
weibliches Jungfräulichkeitstabu Fehlen von Jungfräulichkeitstabus
Geschlechtsverkehr tabuisiert Geschlechtsverkehr nicht tabuisiert
Liebesbeziehungen zwischen Jugendlichen Liebesbeziehungen unter Jugendlichen
streng verboten werden gutgeheißen
homosexuelle Neigungen sowie strenges Tabu keine homosexuellen Tendenzen, kein entsprechendes Tabu
Inzestneigungen sowie strenges Tabu keine Inzestneigungen, kein entsprechendes Tabu
Konkubinat/Prostitution weit verbreitet Fehlen von Konkubinat oder Prostitution

Frauen: Freiheit eingeschränkt frei
minderwertiger Status gleichberechtigt
vaginales Bluttabu (hymenale, menstruale kein vaginales Bluttabu
und geburtliche Blutungen)
keine freie Wahl des Ehepartners freie Wahl des Ehepartners
keine Scheidungsmöglichkeit Scheidung nach Wunsch
Fruchtbarkeitvon Männern kontrolliert Fruchtbarkeit unter Kontrolle der Frauen
Fortpflanzungsfunktionen geringgeachtet Fortpflanzungsfunktionen verehrt

Kultur, autoritär demokratisch
Familie, hierarchisch egalitär
Sozialstruktur: patrilineare Abstammung matrilineare Abstammung
patrilokaler ehelicher Wohnsitz matrilokaler ehelicher Wohnsitz
lebenslange Zwangsmonogamie oder Polygamie keine Zwangsmonogamie, selten bis gar keine Polygamie
politischer und ökonomischer Zentralismus arbeitsdemokratische Strukturen
betonter Militarismus, entsprechende Institutionen kein hauptberufliches Militär
gewalttätig, sadistisch gewaltlos, kein Sadismus

Religion: männerorientiert, Vaterfiguren weiblich orientiert, Mutterfiguren
Askese, Vermeidung von Lust, lustbetont, seelische u. körperliche Befriedigung
schmerzhafte Rituale wird angestrebt
Beherrschung Spontaneität
Angst vor Naturfunktionen Naturverehrung
vollzeitbeschäftigte religiöse Experten keine speziellen Religionsexperten
männliche Schamanen und Heiler Schamanen und Heiler beiderlei Geschlechts
strikte Verhaltensregeln Fehlen strikter Verhaltenskodices

Quelle: orgonelab.org / C+P by Ph.D. James DeMeo

Aspekte des Patrismus sollen auf die Natur der Kinder in einer der Tierwelt unbekannten und negativen Konnotation Auswirkungen manifestieren, zumeist in Form von Erkrankungen, so DeMeo. Klares Indiz sei auch die mörderische Rage gegenüber Frauen und Kindern bei gleichzeitiger Billigung von aggressiven, grausamen, „männlichen“ Totalitarismus. Selbst unsere modernen Gesellschaften kennen diese Auwirkungen zugenüge. Eine Kultur der Traumatisierung und Gewalt ist die Folge. Doch DeMeo stellt die These auf, dass dieses Verhalten nicht im natürlichen Zustand des Menschen vorhanden ist, viel eher muß sie eine Folge eines traumatischen Ereignisses sein. Als Beleg führt er archäologische Zeugnisse an, welche einen Übergang von friedlichen zur gewaltbereiten Gesellschaftsformen in einer bestimmten Region verdeutlichen sollen. Zeigten nordafrikanische Felswandmalereien noch vor der Zeit um 4000 v.Chr. Frauen und Tierbilder mit einem positiven Fruchtbarkeitsethos, während Gewalt nur in Form von Tierjagden vorkam, wendete sich dieses Bild entscheidend in der Trockenzeit hin zu Kriegern, Streitwagen und im Kampf benutzte Pferde. Auch der archäologische Fund paßt dazu: In den matristisch-geprägten Zeiten fehlen völlig Funde für gesellschaftliches Chaos, das alltägliche Leben wurde dargestellt, Frauen und Kinder durften mild und reel abgebildet werden. In den späteren Trockenzeiten dominieren die Gewaltmittel, also Kriegswaffen, zerstörte Siedlungen, männlichen Herrschern gewidmete Tempelbauten, Schädeldeformationen bei Säuglingen und ähnliches.

Geografisch konnte dieser Befund von DeMeo anhand vieler Einzeldaten folgendermaßen eingefangen werden: Beginnend von der Verwüstung ab 4000 v.Chr. und dem beginnenden Wanderungsprozeß brachten diese Völker auch den fruchtbaren und eigentlich friedlichen Gesellschaften die Erfahrungen der Entbehrungen, Angst und Gewalt mit. Schwere Dürren und Hungersnöten waren (und sind) traumatisierende Ereignisse, welche auch noch heute so beschrieben werden. Das Volk der Ik in Ostfarika ist so ein modernes Forschungsbeispiel, welches aufzeigt, was mit familiären Bindungen unter einem extrem verschlechternden Nahrungsangebot geschieht. Zuerst verlassen die Männer auf der Suche nach Nahrung ihre Familien und kehren häufig nicht mehr zurück, Kinder schließen sich zu umherziehenden Banden zusammen, um Nahrung zu stehlen, und am Ende verlassen sogar die Frauen ihre Kinder. Die Sozialstrukturen brechen vollständig zusammen. Hunger ist ein Traumata schwersten Ausmaßes, welches sogar dann noch negativ nachwirkt, wenn die Nahrungsmittelsicherheit wieder hergestellt wurde. Hinzu kam die Wanderschaft, eine harte Lebensweise gerade für Kinder. Zu diesem Zweck wurden Kinder häufig am ganzen Körper fixiert. Normalerweise müssten diese schreien und sich wehren, doch es ist anzunehmen, dass dieser natürliche Reflex bei chronischer Unterernährung ausbleibt. Dieses Fixieren, was wir heute noch unter dem Wort „Pucken“ kennen, ist auch ein gutes Beispiel, wie ein unter Not geborener Mißbrauch des kindlichen Bewegungsdrang sich über Institutionalisierung bis heute, vorallem in Osteuropa und Ostasien, fortgesetzt hat. Noch schwerwiegender sind die Rituale genitaler Verstümmelungen, welche ihren Ursprung im Wüstengürtel hatten und bis heute fortbestehen, wenn auch aus Gründen, welche nicht ganz klar sind.

DeMeo untersuchte für eine Lokalisierung dieser Abnormalitäten 1170 Kulturen genauer, und fand dabei heraus, dass diese tatsächlich erst mit der Verwüstung in die Welt kamen. Seine Hauptquelle war dabei Murdocks Ethnographischer Atlas von 1967. Anhand eines Schematas gab er allen historischen Kulturen einen (mit Sicherheit auch subjektiven) Bewertungsmaßstab in der Frage, ob diese matristisch oder patristisch eingestellt waren. Die dazugehörige Karte zeigt ein deutliches Bild: Umso näher ein Volk an den großen Trockenwüsten der Erde lebte, umso gepanzerter war dieses. Seine Datensammlung umfasste schließlich über 10.000 Karteikarten mit Daten von Ausgrabungsstätten und zu Umweltbedingungen, welche er vergleichend in Relation stellte. Sein Schluß ist eindeutig: Die früheren Völker waren ungepanzert, archäologische Spuren verweisen auf behutsame Bestattungen unabhängig des Geschlechts, körperlich realistische Statuetten von Frauen sowie eine fröhliche, milde Töpferkunst und positive Felsmalereien. Mit der Verwüstung entstand ein technologischer Wandel, Siedlungen wurden größer und befestigter, Waffentechnik wurde immer mehr verfeinert. Mit diesen Waffen konnten Siedlungen fruchtbarer Orte erobert werden, so am Nil, in der Levante oder im Iran. Neue tyrannische Zentralstaaten gewannen an Macht und unterwarfen alle kleineren Einheiten. Ein Wachtstumszwang, ein Fortschritt an Technologie war ebenso Folge wie die Gewaltausbreitung und die militante Aufrüstung. Alles diente schlußendlich der Vergrößerung des Territoriums. Bis heute streben alle Imperien zu noch mehr Macht und Unterwerfung, fast alles untersteht dem Wachstumzwang, aber nur wenig wird auf die Zufriedenheit der Menschen ausgerichtet.

Die ehemaligen „Streitaxt-Völker“ aus der Wüste breiteten sich auch nach Europa aus; ab 4000 v.Chr. fielen Skythen, Hunnen, Mongolen, Araber und Türken über das fruchtbare und grüne Europa her. Doch hier entwickelte DeMeo nun eine These, welche sicherlich umstritten ist. Seiner Meinung kam von diesen Wüstenvölker die Gewalt in das sonst friedliche Europa; am stärksten und frühesten im Mittelmeerraum, während abgelegene Gebiete wie die Britischen Inseln und Skandinavien oder später die Mitte Amerikas weniger von dieser Gealtausbreitung tangiert sein sollen. Wenn er allerdings die Zeit der Araber und Türken beschreibt, sollte er die Kreuzzüge der Europäer und später die Kolonalisierungen der Europäer in Relation setzen; das späte Mittelalter war ebenso wie das römische Europa der Antike bereits eine Zeit, in welcher die Gewalt in Europa überdeutlich angekommen ist. Wenn er jedoch den europäischen Gewaltimperialismus als eine späte und vielleicht dadurch noch stärker gewordene Stufe der Gewaltstruktur bezeichnen würde, welche zu Beginn des 4. Jahrtausend v.Chr. grundsächlich fundiert wurde, und welche zurück auf den afrikanischen Kontinent gewirkt hat, dann erschiene seine These schlüssig.

Vielleicht können wir die „Erfindungen“ des Christentums, des Judentums und des Islams in diese Überlegungen einbinden. Als Religionen aus der Wüste sind sie eindeutig patriarchiale Herrschaftskonstrukte, mit einem männlichen Gott an alleiniger Stelle und einer unterschiedlich starken Benachteiligung weiblicher Elemente. Das Alte Testament der Juden läßt es an eine Gewaltbejahung nicht mangeln, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ ist dafür vielleicht der populärste Nachweis. Für das fruchtbarere Europa wurde dieses Credo in eine mildere Form gegossen, nun trat anstelle des rachesüchtigen Endzeitgott ein milderer, liebender Gott, welcher „die linke und rechte Backe hinhält“. Doch das Element der Dualität, gut und böse, ist vielleicht das prägendste Element dieser Religion, die daraus zwingend folgende Doppeldeutigkeit bis heute das auffälligste Merkmal. Gewalt ist immer gegen den Bösen, zum Zwecke des Guten, gerichtet. Der Feindbildaufbau, auch mit wenig Informationen oder Gewissheiten, ist heute im Zeitalter der Massen die schärfste und wichtigste Waffe der Propaganda. Dies also ist das Beispiel, wenn DeMeo eine europäische Mischform von patriarchialischen und matriarchialischen Elementen bespricht. Demgegenüber beschreibt DeMeo die Ausbreitung der Gewaltstrukturen auf Ozeanien als zwar vorhanden, aber deutlich weniger gewichtig. Für die „Neue Welt“ zeichnet er auch ein küstennahes, oft mit Eroberern in Konflikt geratenes, gewaltbereites Bild im Kontrast zu einem mittelamerikanischen „Pazifismus“.

Was kann man nun von dieser These halten? Auch wenn es „aus der Mode“ geraten ist, so ist doch unbestreitbar richtig, dass Umwelteinflüsse, insbesondere Katastrophen, die recht schutzlose Spezies Mensch formen kann. Da wir wie kein zweites Wesen in der Natur auch von unseren Gefühlen und unserem Denken leben, sind Traumatas nachvollziehbare Auslöser für späteres Falschverhalten. Doch alles Verhalten nur auf äußere, „programmierte“ Erfahrungen zu reduzieren, erscheint etwas kurzgesprungen. Auch wohlhabende, genußbereite Menschen können ideologisiert werden. Der Idealismus und der Materialismus spielen eben deshalb seit Beginn der Philosophie eine fundamentale, nicht auf einen Nenner allein bringende Rolle, weil eben der Mensch auch „aus dem Nichts heraus“ handeln kann. Viel Fehlverhalten, so lernt uns die Geschichte, entstand oftmals in der Schicht, wo es zumindest materiell an nichts mangelte. Eventuell ist die These DeMeos zu wenig philosophisch, zu stark psychologisch ausgerichtet. Doch sie hat ihre Berechtigung als Teil der großen Frage, warum die Gewalt immernoch, trotz aller schlimmen Folgen, in der Welt ist, woher sie kommt und was die richtigen Rezepte für eine Überwindung wären.

Allerdings, selbst wenn wir uns darauf einigen würden, dass die Natur mit ihrer Macht uns vollständig determiniert, dann wären die Handlungsmöglichkeiten für uns Menschen gleich null. Diese Vorstellung würde uns als rein passive Geschöpfe ohne Handlungsräume zurücklassen. Der Mensch aber ist aktiv aufgefordert, die Lebensumstände, soweit es ihm möglich ist, für sich und seine Mitmenschen permanent zu bessern, so auch im Genuß einem Optimum entgegenzusteuern. Erkenntnisse sollten, trotz Traumatas, wirkvolle Mittel sein, um positive Veränderungen zu bewirken.

Doch eine Analyse ist dabei zwar gut, doch ersetzt sie nur im ersten Schritt ein aktives Handeln in die richtige Richtung. Leider sind unsere aktuellen Staatsgebilde, auch im Westen, sich dieser Funktion im Gesamten viel zu wenig im Klaren. Noch herrscht der Kampf und die Konkurrenz vor, noch leben wir im Mangeldenken oder wünschen uns häufig sogar verstärkt den „künstlichen“ Mangel herbei, immernoch werden Rituale der (Selbst-) Bestrafung durchgeführt, immernoch wird gefoltert und gemordet, immernoch gibt es mächtige Armeen. In DeMeos Worten ausgedrückt leben wir noch in der Angst, die Wüste könnte wiederkehren und uns verschlingen. Wir sollten aber nicht vergessen: Die Erde besteht nur aus rund 5 Prozent Wüstenfläche, aber zu 70 Prozent aus Wasser und zu gut 15 Prozent aus fruchtbarem Land. Das Glas ist also halbvoll.

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